192 Seiten, 20.- € , Herder
Otto Kernberg ist einer der großen alten Männer der Psychoanalyse, Experte für schwere Persönlichkeitsstörungen wie Borderline und Narzissmus. Bei den Recherchen zu meinem Youtube-Video über Narzissmus (Kanal Dr. Wlodarek Life Coaching) stieß ich wieder auf ihn und so war ich – nicht zuletzt auch als ehemalige Psychotherapeutin – an diesem Buch besonders interessiert. Manfred Lütz, Psychiater und katholischer Theologe, befragt Kernberg. Dabei führt er seinen Gesprächspartner nicht nur durch Sachfragen, sondern durch die verschiedenen Lebensabschnitte: Seine Kindheit in Wien, die Flucht nach Chile und schließlich das Leben in den USA. Kernbergs Vita erscheint in dieser Dialogform lebendig, oft auch ergreifend und beklemmend. Insgesamt entsteht so eine interessante Form der Biografie über einen bedeutenden Mann.
Allerdings gibt es auch einiges zu kritisieren: Es stört mich, dass die beiden älteren Herren offenbar nur zwei Therapiemethoden kennen: Die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie. Andere werden nicht einmal gestreift, etwa die Gesprächstherapie nach Rogers, die Gestalttherapie, systemische Psychotherapien und neue erfolgreiche Methoden. Außerdem enthält das Buch nur wenig zum Titelthema. Nicht die Psychotherapie und ihre Wirkung steht im Vordergrund., es gibt nur einzelne Patientengeschichten ohne Beschreibung der Behandlung. Zum größten Teil geht es um Kernbergs Biografie und – von Seiten des Autors penetrant ins Spiel gebracht – Gott und die katholische Seelsorge. In diesem Part ist zu merken, wie irritiert der im jüdischen Glauben erzogene Kernberg darauf reagiert. Da hätte es passendere und interessantere Fragen gegeben. Schade, dass diese Chance vertan wurde. Unangenehm berührt hat mich auch der „gebildeten Metzger“, den Lütz immer wieder zitiert. Dieser Ausdruck für psychologische Laien wirkt niveaulos.
Insgesamt ein interessantes Buch über den weltweit renommierten Psychoanalytiker Otto Kernberg. Man kann Lütz dankbar für seine Initiative sein, auch wenn er wegen seiner religiösen Penetranz leider nicht der beste Interviewpartner ist.